Die Stille und der Wolf

Schwierige Zeiten. Da sind sich alle einig in ihrer Uneinigkeit. Eine Welle der Trauer und Empörung, des Krieges und Hasses, des Menschlichen und Allzumenschlichen jagt die nächste. Hierzulande sind die Menschen im Winter besonders aufgeregt. Im Frühling dann liegen sie auf sattgrünen Grashalmen gebettet im Park und nutzen die leere Zeit dazu aktiv am Smartphone eher urteilsfroh als urteilsstark das Elend in der Welt zu be#twittern. Sie nennen’s Engagement. In Zeiten wie diesen muss man eine Strategie entwickeln, in den richtigen Momenten der Brandung den Rücken zu kehren, um nicht von jeder Welle erfasst zu werden. Am Ende prallen sie, egal wie aufgebauscht sie daherkommen, auf den Strand menschlicher Egozentrik und ziehen nicht mehr als ein bisschen Dreck mit zurück ins bewegte Meer der Einbildungen. Ich sitze also auf dem Trockenen, gestrandet, und traue mich derzeit nicht ins Wasser zurück, denn ich fürchte die tosende Unruhe und die vielen Unterströmungen, die einen schneller in die Ungewissheit ziehen, als einem lieb ist. Habe ich das Meer nicht früher geliebt? Als Kind? Wie ein solches sitze ich nun hier, bockig und angewidert und denke: ich spiel nicht mehr mit! Ich weigere mich meine Achtung und vor allem Beachtung anderen Themen zu widmen als solchen, die mich erfreuen und erfüllen, mich innerlich bereichern und beglücken. Wie egozentrisch ist das? Ich lerne zu ignorieren, Gott was für ein Segen, und stehe kurz davor mich in den herrlich lauwarmen Tümpel der Gleichgültigkeit zu stürzen und mich damit abzufinden, dass wir es wohl, um einen berühmten Leipziger zu bemühen, mit der besten aller möglichen Welten zu tun haben.

die-stille-und-der-wolfIn solchen Momenten ist es wichtig ein Ass im Ärmel zu haben – einen Anker, eine Erinnerung an alles Gute und Schöne, das das Menschsein auch mit sich bringt.
Gesellschaftlicher Wellnessurlaub direkt aus dem Bücherregal sozusagen. „Die Stille und der Wolf“ ist eine Essaysammlung des seit vielen Jahren in Leipzig lehrenden Anglisten Prof. Elmar Schenkel. Weiterlesen

Werbung

Erinnerung an das große Glück der Traurigkeit

 

Um vier Uhr morgens sah ich die letzte Rakete in den Himmel, die letzte Weinflasche auf den Asphalt und mich mit dem Fahrrad volltrunken in die letzte Hecke fliegen. Im selben Moment flog in Paris eine Luxuslimousine mit der englischen Prinzessin der Herzen auf der Rückbank gegen eine Wand. Im Gegensatz zu ihr wachte ich wenige Stunden später unbeschadet wieder auf, machte nichtsahnend den Fernseher an und sah weinende Menschen auf jedem Sender. Am Frühstückstisch ein ähnliches Bild: weinende, fremde Menschen. Und selbst im betreuten Jugendauffanglager, wo ich die Nachmittage verbrachte, wurde die Trauer um den Tod einer Prinzessin doch verstärkter thematisiert als die Freude über das gerade angerissene Lebensjahr meiner Wenigkeit. Andererseits sollte mich das gerade nicht wundern, denn unser kleiner schwarzgekleideter Kreis hatte es sich schließlich zur Mission gemacht traurig zu sein. Ja, genau, traurig sein, das war noch erlaubt – 1997. Weiterlesen

Über den Tod :3: Leben lernen

Link: Teil 1 – Warum schwarz nicht immer Schwarz ist
Link: Teil 2 – Verpassen, Vergessen, Verlieren

Was macht man nun daraus? Die ganze Angelegenheit scheint doch recht frustrierend? Fühlt man sich nicht gleich wie ein hilflose Frucht, die darauf wartet vom Baum zu fallen? Warum sollte die Sonne jeden Tag aufgehen, uns mit Licht, Wärme und Geist erfüllen, wenn der Akt des Aufstehens keine Bedeutung hätte?

„Philosophieren heißt sterben lernen“, schrieb Michel de Montaigne. Philosophieren heißt leben lernen, denke ich, und widerspreche ihm damit weniger als es den Anschein macht.

Manchmal müssen ganze Welten zerstört werden, um Platz für das Fundament einer zeitgemäßen oder fruchtvolleren Variante zu schaffen. Innenwelten sind gemeint natürlich, denn hier entwickeln wir eine Vorstellung davon, wer wir sind und was wir hier tun. Weiterlesen

Im Schmerz Geboren – David Bowies ★

Blackstar-CD

—> English Version press here <—-

Den Moment solle man leben, heißt es. Die Logik hinter dieser immer neu aufgelegten Platte schlauer Ratschläge ergibt sich im Wesentlichen aus dem Umstand, dass Vergangenheit wie auch Zukunft ausschließlich unserem Bewusstsein zugeordnet werden können, die Gegenwart jedoch konstituiert, was wir Realität nennen. Zwar sind wir in der Lage uns in ungeheure Zeiträume hinauszudenken, doch bleiben wir Augenblickswesen, die sich selbst, also die eigene Existenz, immer nur dann fühlen können, wenn die Aufmerksamkeit dem gegenwärtigen Moment geschenkt wird. Doch nicht jeder Moment lohnt darin zu verharren? Genau genommen sind es die Wenigsten und wenn die moderne Gesellschaft eines gelernt hat, dann sich zu zerstreuen. Oft dienen die Sinne als Krücke uns aus dem Dschungel der Träume, Pläne und Erinnerungen in die Welt zurückzuholen, in welcher wir tatsächlich gerade ein- und ausatmen. Wenn man beispielsweise einer gut programmierten Maschine gleich mit dem Auto unterwegs ist und so vor sich hin und sich weg sinniert, ist es oft ein Sonnenuntergang, eine Melodie oder auch ein Moment der drohenden Gefahr, der die Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurückzieht. Schönheit und Angst scheinen immer hier. Tod und Liebe immer dort.

★ lässt diese gedachten Grenzen verschwimmen, denn es reißt uns hinfort in den Gedankenozean eines sterbenden Mannes. 

Weiterlesen

Über den Tod :2: Verpassen, Vergessen, Verlieren

Verpassen
Wie steht es um die Befürchtung etwas zu verpassen? Mich persönlich zieht es immer eher in die Vergangenheit als in die Zukunft. Ich besuche lieber historische als futuristische Orte. Am liebsten flüchte ich nach Weimar, weil man dort stets bemüht ist, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass der alte Goethe jeden Moment um die Ecke biegen könnte. Ich gebe mich dem gern hin und muss mich bei jedem Spaziergang durch Gässchen und den schönen Ilmpark unwillkürlich fragen, ob er sich beim Anblick der modernen Zustände im Grabe drehen würde oder ob er keine Zeit verlieren würde einen Instagramaccount einzurichten, um seine Gedanken und Fundstücke zu teilen. Ich glaube die Antwort zu kennen. Und dann frage ich mich doch auch wie es wohl sein wird in 200 oder gar 2000 Jahren. Wird es der Wissenschaft gelingen, den Tod zu überlisten?  Wird die Erde nur ein Ort von vielen sein – eine Haltestelle im Universum? Oder werden wir auf einem ausgebeuteten und verbrannten Stück Erde auf allen Vieren von vorn anfangen müssen? Will ich es wissen? Weiterlesen

Über den Tod :1: Warum schwarz nicht immer Schwarz ist

Ich verbrachte die ersten Jahre meiner Kindheit in der ehemaligen DDR. Der Glaube an eine fortwährende Existenz der menschlichen Seele wurde mir also nicht gerade in die Wiege gelegt.  Tot sein, so erklärte man dem Arbeiterkind, sei wie schlafen, nur unendlich lang. Ich erinnere mich, bereits im Kindergartenalter an emotionaler Schnappatmung gelitten zu haben, wann immer ich mir vorzustellen versuchte, wie lange denn diese Unendlichkeit wohl sein mag, die mich erwartet, sollte mich ein Bus überfahren. Einfach weg! Für immer? Ich? Weiterlesen

Nun auch noch ICH in Arkadien :9: Leben im Kloster?

18.5.

IMG_8201Um die Mittagszeit erreiche ich Chiusure, einen kleinen Ort etwa dreißig Kilometer von Siena entfernt. Die örtliche Bushaltestelle gewinnt mir ein Schmunzeln ab. Ich parke direkt daneben und nehme Kurs auf das wahrscheinlich einzige Restaurant im Dorf, denn von hier aus kann ich einen wunderbaren Blick auf das eigentliche Ziel des heutigen Tages werfen – die Abbazia di Monte Oliveto Maggiore – ein mittelalterlicher Klosterkomplex inmitten der gekämmten Berge. Ich mache es mir auf dem Freisitz (Westdeutsch: draußen) gemütlich. Ich bin der einzige Gast. Weiterlesen

Kunstwerk Biographie – Rüdiger Safranskis Portrait des Immerbewegten (Teil III)

Der Balanceakt
(Zus.Safranski. vorr. Kap. 17. Schwierigkeiten der Doppelexistenz/Entstehung Tasso. S.284ff)
„So jung hat er zu vieles schon erreicht, als daß genügsam er genießen könnte…“1

SafranskiGoetheGoethes Bedürfnis nach praktisch-wirksamer Tätigkeit wird über das nächste Jahrzehnt in Weimar mehr als gestillt. Der junge Herzog Karl August wird ihm schnell zum Freund und Weggefährten. Goethe nutzt die Wei-marer Jahre sich in neuen Materien auszutoben, das ‚Draußen‘ zu studieren. Weiterlesen